„Plötzlich gab es einen lauten Knall, fürchterlich blasende und schlagende Geräusche und einen hin und her wirbelnden Pressluftschlauch.“

 

Es war Donnerstag, der 20.11.1958 etwa 23:15 Uhr, als ich mir in der Kaue der Zeche Prosper II in Bottrop mein Arbeitszeug anzog. Seit November 1953 war ich hier bei der Bergbauspezialfirma „Gewerkschaft Walter“ als Gesteinshauer tätig. Ich hatte diese Woche 24:00-Uhr-Schicht und langsam trudelten auch meine Kumpel ein. Wir waren vier Leute auf unserem Drittel und kannten uns schon viele Jahre. Seit April 1958 war ich auch Schießmeister und somit für die Sprengung beim Streckenvortrieb verantwortlich.

 

Beim Umziehen sagte mir schon unser Ortsältester: „Albrecht wir müssen Sprengstoff mitnehmen“. Somit war auch schon geklärt wie unser weiterer Arbeitsablauf aussah. Wir waren in einem vierdrittel-Betrieb tätig. Das bedeutete im Klartext, die Seilfahrtszeiten waren 6:00 Uhr morgens - 12:00 Uhr mittags – 18:00 Uhr abends und 24:00 Uhr nachts. Jedes Drittel war mit vier Mann besetzt. Der Grund für dieses vierdrittel-System war, dass unsere Arbeitsstelle relativ weit vom Schacht weg war und wir hatten wegen der Temperatur vor Ort 7-Stundenschicht. Das heißt wir hatten Ablösung vor Ort. Dazu später mehr.

 

Nun fuhren wir um 24:00 Uhr an und gingen zur Sprengstoffkammer, die etwa 150 bis 200 Meter vom Schacht entfernt war. Dort bestellte ich dann bei dem Sprengstoffausgeber die gewünschte Menge Gesteinssprengstoff und die dafür benötigten Zünder mit den entsprechenden Zeitstufen. Jeder Schießmeister hatte hier seine leeren Sprengstoffkisten gelagert. So nahm ich die nötige Anzahl Behälter und verteilte den Sprengstoff gleichmäßig auf die Kästen, damit jeder etwa das gleiche Gewicht zu tragen hatte. Die Behälter waren wie Rucksäcke, nur eben aus Blech und eckig. Die Zünder durften nur in meine Kiste. Das hört sich alles so einfach an, war aber doch etwas komplizierter. Der Sprengstoff war sozusagen in handlichen Paketen in Ölpapier verpackt und jedes Paket war mit einer Seriennummer versehen. Diese Seriennummer war auch auf jeder Patrone vorhanden. Der Schießmeister musste nun jede einzelne Seriennummer in seinem Schießbuch eintragen. Jeder Zünder wurde registriert. Es war ein absolut gründliches Kontrollsystem und man hätte noch nach Jahren bei einem Missbrauch von Sprengstoff jede einzelne Patrone und jeden Zünder mit Datum und Uhrzeit dem jeweiligen Schießmeister zuordnen können. Übrigens, auch für das Tragen des Sprengstoffs mussten die jeweiligen Träger extra eine Unterweisung mitmachen.

 

Aber zurück zu unseren weiteren Arbeitsschritten. Nach Empfang und Verpacken des Sprengstoffs wurde es Zeit, uns auf die Socken zu machen. Nun gingen wir mit unseren vollgepackten Kisten auf dem Rücken strammen Schrittes in Richtung Arbeitsstelle. Zuerst war das ein Marsch in einer Frischluftstrecke. Nach etwa drei Kilometern ging es seitlich in die eigentliche Vortriebsstrecke, die ab dem Abzweig künstlich bewettert wurde.

 

Dazu sind einige Erklärungen nötig. Die Strecke, in der wir nun weitergingen, hatte am Ende ja nur die nackte Felsenwand, also die Ortsbrust, wo unsere eigentliche Arbeitsstelle war. Diese Strecke war ca. 800 Meter lang und wurde von uns immer weiter vorgetrieben. So nennt man das. Um nun in dieser Strecke überhaupt atmen und arbeiten zu können musste sie, wie schon gesagt, künstlich bewettert werden. Dies geschah mit folgender Methode: An der Stelle, wo der Streckenabzweig die Frischluftstrecke verließ, wurde ein starker Ventilator, ein „Lüfter“ eingebaut. Hinter dem Lüfter wurden dann sogenannte Lutten vorgehängt. Das waren dicke Blechrohre (später aus Kunststoff) die bis vor Ort geführt wurden. Die Frischluft, die so nach vor Ort transportiert wurde, erwärmte sich natürlich. Je grösser die Entfernung von der Frischwetterstrecke, um so schlechter die Luft.

 

Zurück zu unserem Marsch in Richtung vor Ort. Jetzt war natürlich die Temperatur in der Strecke schon über 30°C und auch die höhere Luftfeuchtigkeit machte sich bemerkbar. Aber nun waren wir vor Ort und unsere Kumpel von der 18:00-Uhr-Schicht waren froh, dass wir da waren und somit ihre Schicht beendet war. Nachdem ich den Sprengstoff und die Zünder weggeschlossen hatte, die nötigen Informationen mit der 18:00-Uhr-Schicht ausgetauscht waren, fing jetzt unser eigentliche Arbeit an. Hier vor Ort hatten wir über 32°C und wir hatten sieben Stunden-Schicht. Das heißt, ab einer Temperatur von 28°C war eine Schichtzeit von sieben Stunden höchstens vorgeschrieben, wobei acht Stunden bezahlt worden sind. Entsprechend waren wir auch bei der Arbeit vor Ort gekleidet. Wir trugen alle nur kurze Hose, Gummistiefel und einen Schutzhelm. Der Oberkörper war nackt. Die Gummistiefel waren deswegen nötig, weil wir uns vor Ort eigentlich immer knöcheltief im Wasser bewegten.

 

Als erster Schritt wurde von mir die Ortsbrust fest gemacht. Mit einer Hacke wurden alle losen Steine abgetrieben. Diese Arbeit hieß tatsächlich so. Damit wurde beim Bohren die Verletzungsgefahr minimiert. Während ich dann gleichzeitig die zukünftigen Ansätze der Bohrlöcher mit Öl-Kreide markierte, schleppten meine Kumpel das gesamte Bohrgezähe und Zubehör nach vorn. Das waren drei Bohrhämmer (je Hammer etwa 50 kg), drei Bohrsäulen, die nötigen Pressluftschläuche und ein dicker Verlängerungsschlauch mit Verteiler. Dazu kamen Holzpinne zum Markieren der Bohrlöcher; nicht zu vergessen die Wasserschläuche für die Wasserspülung der Bohrstangen. Sie waren nämlich hohl und das Wasser wurde über einen extra Anschluss am Bohrhammer durch die Bohrstange gedrückt. So wurde das beim Bohren entstandene Bohrmehl aus dem Bohrloch gespült. Das war zum einen die beste Staubbekämpfung und gleichzeitig wurde die Bohrkrone gekühlt. Es waren immerhin ca. 50 bis 55 Bohrlöcher von drei Metern Länge für einen Abschlag nötig.

 

Außerdem musste vor dem Bohren auch noch das „Gestänge“ vorgebaut werden. Das waren die Bahnschienen, auf denen mit dem Schaufellader dann die Berge in die Wagen geladen wurden. Nun war mittlerweile alles Bohrgerät angeschlossen und es konnte mit dem Bohren begonnen werden.

 

Ein paar Worte der Erklärung sind allerdings noch zur „Bohrsäule“ nötig. Eine Bohrsäule ist ein pneumatischer Zylinder, auf dessen oberes Ende der Bohrhammer aufgesteckt wird. Mit einem Drehventil kann die Bohrsäule sehr feinfühlig in ihrer Länge variiert werden. Durch diese Längenänderung kann man den Andruck und Vorschub des Bohrhammers regulieren, ohne ihn mit der Hand halten zu müssen.

 

Dem ersten Kumpel steckte ich seine drei Meter lange Bohrstange in den Bohrhammer. Ich nahm die Bohrstange vorn an der Bohrkrone in die Hand und er betätigte die Bohrsäule vorsichtig so weit, bis die Bohrstange gegen den Stein drückte. Auf mein Zeichen schaltete er den Bohrhammer ein und mit einem ohrenbetäubenden Krach lief der Hammer an. Sobald die Bohrstange etwas in den Stein eingedrungen war und nicht mehr wegrutschen konnte, ging ich zum nächsten Kumpel. Dort das gleiche Spiel. Der zweite Hammer lief. Wenn alle drei Bohrhämmer in Betrieb waren, konnte man den Lärm buchstäblich auf der Haut spüren. Eigentlich kann man so einen Geräuschpegel gar nicht beschreiben. Deswegen musste jeder während der Bohrarbeit Ohrstöpsel benutzen. 

 

So wurde Bohrloch um Bohrloch erstellt, d. h.: Immer wenn ein Loch gebohrt war, zogen wir zwei im Team die Stange aus dem Loch und setzten das Nächste an. Diese Arbeit wurde solange fortgesetzt, bis der gesamte Abschlag abgebohrt war. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Vortriebsstrecke ca. fünf Meter hoch und etwa auch so breit war. Die oberen Löcher wurden zum Beispiel mit sogenannten „Aufsteckern“ auf den Bohrsäulen erstellt. Das waren Verlängerungsstangen, die auf die Bohrsäulen gesteckt wurden. Solche Bohrarbeit war außergewöhnlich schwierig und man musste schon sehr viel Erfahrung besitzen, um ohne umzukippen die oberen Löcher zu bohren. Waren alle geplanten Löcher fertig, ging es erst einmal ans Aufräumen, d. h.: Vor dem Besetzen der Bohrlöcher musste erst einmal alles, was sich vor Ort befand, weggeräumt werden. Auch der Schaufellader musste soweit zurückgefahren werden, dass er beim Sprengen nicht beschädigt werden konnte. Dann konnte ich den Sprengstoff und die Zünder nach vorn holen und damit beginnen die Bohrlöcher zu besetzen. Allerdings musste jedes Bohrloch vor dem Besetzen ausgeblasen werden. Das geschah mit einem 3,50 Meter langen, dünnen Eisenrohr, dem „Ausbläser“, der an Pressluft angeschlossen wurde. Durch hin und her bewegen blies er den im Bohrloch vorhandenen Bohrschlamm hinaus. Die letzte wichtige Arbeit vor dem Besetzen, die noch von mir durchgeführt werden musste, war das „Ableuchten“. Mit der Wetterlampe kletterte ich auf einer „Fahrte“ (Leiter) an die höchste Stelle an der Ortsbrust und prüfte damit, ob Grubengas vorhanden war. Wenn alles in Ordnung war, konnte nun endlich mit dem Besetzen begonnen werden. Meine Kumpel waren als Sprenghelfer unterwiesen und durften so bestimmte Arbeiten beim Besetzen durchführen. Ich bestimmte in Absprache mit dem Ortsältesten dann die Zündfolge und machte die Schlagpatronen fertig. Dazu wurde in eine Patrone mit einem Kupferstift, der in Form und Größe etwa wie ein Bleistift war, ein Loch gedrückt und der Zünder hineingeschoben. Der Sprengstoff war aus einer Masse, die sich etwa wie eine in Ölpapier gewickelte Marzipanrolle anfühlte. Die Schlagpatrone und die von mir bestimmte Anzahl Patronen wurden von uns mit einem Ladestock aus Holz von drei Metern Länge in das Bohrloch geschoben und mit Besatz verschlossen. Der sogenannte Besatz waren „Würste“ aus Lehm, die hinter die letzte Patrone geschoben und vorsichtig festgestampft wurden. 

 

So wurden von uns nach und nach alle vorhandenen Bohrlöcher besetzt. Zum Schluss war da eine Gesteinswand mit 55 Löchern, aus denen dann jeweils zwei lange Drähte hingen. Nun wurden von mir die Enden der Schießdrähte blank gemacht und miteinander verbunden. Wenn alles noch mal von mir gründlich überprüft und durchgemessen war, wurden die zwei über gebliebenen Drähte an die etwa 100 Meter lange Zündleitung angeschlossen und ich verließ als letzter die Ortsbrust.

 

Vor dem Verlassen des Ortes wurde immer vom Schießmeister ein vorgeschriebenes Ritual durchgeführt. Ich stellte mich mitten in die Strecke und rief mit der größten mir möglichen Lautstärke und sehr lang-gezogen die Worte: „Es brennt!“ Am Ende der 100 Meter langen Zündleitung, also an der Zündstelle, musste noch einmal von mir mit der Wetterlampe die Zündstelle auf Grubengas kontrolliert werden. Dann kauerten wir vier Kumpel uns in eine kleine transportable Blechkammer, die mit einfachen Mitteln und zwar mit einem Pressluftschlauch etwas Überdruck bekam, damit die Schießschwaden dort nicht eindringen konnten. Dann schloss ich die Zündleitung an die Zündmaschine an. Noch einmal rief ich die vorgeschriebenen Worte: „Es brennt!“ und betätigte dann die Zündmaschine. Die Lautstärke der Explosion, der Luftdruck in dieser doch recht engen Röhre aus der praktisch ja unsere Strecke bestand, das Prasseln der losgesprengten Berge kann man eigentlich nicht beschreiben. Man muss das erlebt haben. Dann zogen die Schießschwaden an uns vorbei und wir hielten uns einige Minuten in unserer kleinen Blechkammer auf, bis kein Qualm mehr kam. Nun kam der spannendste Moment der ganzen Schießarbeit. Jetzt ging ich nach vor Ort, um zu kontrollieren, ob der Abschlag gut gekommen war. 

 

Es war alles in Ordnung. So weit ich bis jetzt sehen konnte, waren keine Schäden entstanden. Das war nicht immer selbstverständlich. Deswegen war ich hochzufrieden und gab die Sprengstelle frei. 

Unsere Ablösung war nun schon unterwegs und wir begannen damit die Bahnschienen für den nächsten Arbeitsgang frei zu räumen. Dazu fuhr ich den Schaufellader nach vorn und mit der Schaufel des Laders schob ich die Schienen frei. Der Schaufellader wurde durch Pressluft angetrieben und war mit einem langen zwei Zoll Pressluftschlauch an der Hauptrohrleitung angeschlossen. Langsam kam ich jetzt an den vollen Bergehaufen und fing an, die ersten Bergewagen voll zu laden. Meine anderen drei Kumpel waren damit beschäftigt, die vollen Bergewagen wegzuschieben und leere Wagen an den Lader zu koppeln.

 

Plötzlich gab es einen lauten Knall, fürchterlich blasende und schlagende Geräusche und einen hin und her wirbelnden Pressluftschlauch. Der Luftschlauch war am Schaufellader abgerissen und tanzte förmlich durch die Strecke. Sofort war durch die ausströmende Pressluft die ganze Strecke voller Staub und ich rannte um mein Leben. Ohne Sicht, nur rein instinktiv, flüchtete ich in Richtung vor Ort. Eine andere Möglichkeit hatte ich im Moment nicht. Aber dem hin und her wirbelndem Schlauch konnte ich nicht entkommen. Der Schlauch verprügelte mich dermaßen, immer in die kurzen Rippen, auf den Rücken, einfach immer auf den nackten Oberkörper, dass ich hinfiel, aufstand, wieder versuchte wegzukommen und dann zusammengekrümmt die Hände schützend über den Kopf haltend am Stoß liegen blieb. Nach etlichen Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, war plötzlich Totenstille.

 

Dann kamen Lichter von hinten. Meine Kumpel kamen zusammen mit den Leuten der Ablösung, also der 6:00-Uhr-Frühschicht, in meine Richtung. Man unterhielt sich laut über diesen doch schweren Vorfall des abgerissenen Schlauchs. Man lobte den Kollegen, der in dem ganzen Chaos den Absperrhahn relativ schnell gefunden hatte. Alle freuten sich darüber, dass alles gut gegangen war. In dem ganzen Tumult war allerdings noch niemandem aufgefallen, dass einer fehlte. Ich lag da am Stoß und konnte nur leise stöhnen. Der Schlauch hatte mir die ganze Luft aus dem Körper geprügelt. Plötzlich rief dann ein Kumpel: „Guck mal da, da liegt ja der Albrecht!“ Endlich hatte man mich entdeckt und kümmerte sich um mich. Nach und nach kam meine Luft zurück und ich konnte wieder sprechen. Wir tasteten gemeinsam meinen ganzen Körper ab und stellten fest, dass ich außergewöhnlich viel Glück gehabt hatte. Außer etlichen Blutergüssen und Prellungen war ich „unverletzt“.

 

Warum der Schlauch vom Schaufelader abflog, haben wir nie herausfinden können. Auf jeden Fall war die Konsequenz für die Zukunft, dass jeder Antriebsschlauch zusätzlich mit einem Sicherheitsseil versehen wurde. 

 

Meine Schmerzen hatte ich natürlich noch etliche Tage, aber trotzdem hatte ich das Gefühl sehr gut davon gekommen zu sein. Auch die blauen, gelben und grünen Flecken am ganzen Körper waren noch längere Zeit zu sehen. Noch nie in meinem Leben war ich so verprügelt worden. Dass meine Kumpel am Anfang immer flachsten: „Na endlich hat es mal den Richtigen erwischt,“ machte mir am wenigsten aus. Sie meinten es ja nicht so.