„Hätte ich mal besser mein Gedächtnis verloren behalten!“

 

Im Juni 1960 waren wir nach Kamp – Lintfort gezogen. Unser Sohn Manuel war gerade erst neun Monate alt als mir die folgende Geschichte passierte.

 

Die Scheinwerfer leuchteten nur einen Teil der Straße aus. Es war stockduster. Der Wagen, in dem ich saß, fuhr mit ziemlicher Geschwindigkeit. Den Mann am Lenkrad kannte ich nicht. Ich sah an mir herab. Dass ich total verschmutztes Arbeitszeug an hatte, sah ich auf den ersten Blick. Hose, Hemd und Jacke, alles war voller Dreck. An den Füßen hatte ich schlammbedeckte Gummistiefel und als ich mir an den schmerzenden Kopf fasste, hatte ich einen gelben Schutzhelm in der Hand. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich war und vor allem was mit mir war. Der Fahrer merkte wohl, dass ich mich verwundert und vollkommen ratlos umsah und sagte. „Na? Wieder da?“ Ich wusste immer noch nicht, was das alles sollte. In meinem Kopf kreisten tausend Fragen, ansonsten war da gähnende Leere. So ein Gefühl kann man sich gar nicht vorstellen. Das ist einfach unglaublich.

 

„Wo bin ich denn eigentlich? Wo wollen wir hin?“ Vorsichtig fragte ich noch: „Wissen Sie denn meinen Namen? Was haben wir für einen Wochentag, für ein Jahr? Ich weiß aus der Vergangenheit eigentlich überhaupt nichts. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich verheiratet bin und Kinder habe. Auch nicht wo ich wohne.“

Er sagte, ohne seine Geschwindigkeit zu drosseln und den Blick immer auf die Straße gerichtet: „Ich sage Ihnen jetzt mal alles was ich weiß. Sie hatten einen Unfall auf der Zeche Rossenray, soviel ich weiß, unter Tage. Ich bin der Krankenwagenfahrer. Der zuständige Heildiener, der mich angefordert hat, sagte mir, ich solle Sie auf dem schnellsten Wege zum Krankenhaus bringen. Ihr Name steht auf den Begleitpapieren. Ich möchte jetzt aber keine Zeit verlieren und Sie so schnell wie möglich im Krankenhaus abliefern. Man ist dort telefonisch informiert. Die warten auf uns. Also, wir haben Donnerstag, den 22. Dezember 1960, zwei Tage vor Heiligabend. Zu den persönlichen Fragen, ob verheiratet, ob Kinder, wo Sie wohnen: Fehlanzeige, da kann ich nichts zu sagen.“

 

Na ja, jetzt war ich ja genau so schlau wie vorher. Mir war wohl ein wenig übel, aber das ließ sich aushalten. Während der Fahrer zügig weiter fuhr, betastete ich meinen Kopf, merkte, dass ich etliche Schrammen im Gesicht hatte und eine schmerzende, geschwollene Stelle am Hals fühlen konnte.

 

Mittlerweile waren wir am Krankenhaus angekommen und ich wurde zügig im Rollstuhl zur Unfallaufnahme gefahren. Ab sofort durfte ich nicht mehr allein laufen. Ich wurde alsbald gründlich untersucht, und vor allem nach dem Unfallhergang und meinen persönlichen Daten befragt. Jetzt kam ich mir natürlich absolut bescheuert vor. Egal, welche Frage gestellt wurde, ich konnte nur immer antworten: „Weiß ich nicht.“

Inzwischen hatte man noch Ärzte dazu geholt. Man gab sich wirklich Mühe, die ganzen offenen Fragen zu klären. Im Grunde waren wohl im Moment alle Beteiligten am Ende ihrer Weisheit. Man teilte mir mit, dass ich vermutlich auf Grund der sichtbaren Verletzungen eine schwere Gehirnerschütterung habe. Ansonsten müsste eben noch auf der Zeche nachgeforscht werden, was eigentlich passiert ist. Nach der Untersuchung wurde ich auf das Krankenzimmer gebracht und sollte dann vorsichtig in das mir zugewiesene Bett krabbeln. Und jetzt geschah etwas, was ich nicht so richtig kapieren konnte. Man hatte mir strikt verboten, allein aufzustehen, allein zur Toilette zu gehen, also mich ganz vorsichtig zu verhalten. Ich war ja immer noch im Arbeitszeug und hatte auch immer noch meine Gummistiefel an. Jetzt kam die diensthabende Krankenschwester zu mir und sagte: „Ziehen Sie sich bitte nackt aus und waschen sich hier am Waschbecken. Ich lege Ihnen hier Wäsche vom Krankenhaus hin, die ziehen Sie dann an. Ihr Arbeitszeug legen Sie auf den Balkon.“ Auf meinen Hinweis, ich solle mich doch so wenig wie möglich bewegen, sagte sie nur: „Stellen Sie sich mal nicht so an. Sie sind doch schließlich Bergmann!“ Ich habe gehorcht und ihre Anweisungen befolgt.

 

Für meine Frau Waltraud stellte sich die ganze Sache folgendermaßen dar (hat sie mir später in allen Einzelheiten erzählt):

 

Es war unser erstes Weihnachtsfest in Kamp - Lintfort. Albrecht hatte Mittagschicht, also die Schicht von 14:00 Uhr bis 22:00 Uhr. Es war schon dunkel draußen und ich versorgte unseren Sohn Manuel, brachte ihn ins Bett. Als ich mich gerade hingesetzt hatte und in der Zeitung blätterte, schellte es an der Tür. Ich öffnete. Vor mir stand ein fremder Mann, der mich fragte: „Sind Sie Frau Kowalsky?“ Als ich ihm das bestätigte, sagte er: „Ich bin von der Zeche geschickt worden und soll Ihnen sagen, dass Ihr Mann einen Arbeitsunfall hatte. Ob er lebt oder tot ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist er ins Krankenhaus gebracht worden.“

 

Und bevor ich weitere Fragen stellen konnte, war er weg. Natürlich war ich erstmal wie vom Blitz getroffen und nach kurzem Überlegen läutete ich an der Tür unserer Nachbarn. Ich erzählte ihnen von der Hiobsbotschaft, die ich bekommen hatte und fragte um Rat. Ich war ziemlich fertig. Der Nachbar holte sofort seinen Motorroller. Ich gab der Nachbarin unseren Wohnungsschlüssel, damit sie nach unserem Sohn sehen konnte und wir fuhren unverzüglich los. Im Krankenhaus angekommen, begann erst einmal eine ziemlich langwierige Suche nach Albrecht. Keiner wusste was von einem eingelieferten, verunglückten Bergmann namens Albrecht Kowalsky. Erst ein ausländischer Arzt, den wir auf dem Krankenhausflur ansprachen, konnte uns helfen. Er brachte uns zu der Station, auf der Albrecht lag. Als ich das Zimmer betrat, in dem Albrecht ziemlich schmutzig im Bett lag, fiel erst mal die größte Sorge von mir ab. Er hat sich wohl, wie ich später erfuhr, doch nicht so vernünftig allein waschen können. Aber dann kam etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Er wusste nicht, wer ich war, er kannte auch unseren Nachbarn nicht. Ich weiß heute nicht mehr genau, wie lange es gedauert hat, bis sein Gedächtnis langsam wiederkam, aber nach etlichen Hinweisen von mir und auch von unserem Nachbarn kam dann wohl langsam und nach und nach die Erinnerung zurück. Nach einiger Zeit fuhren wir mit dem Motorroller wieder nach Hause. Ich war wenigstens einigermaßen beruhigt.

 

Nun will ich, Albrecht, mal die Geschichte von meiner Warte aus, weiter erzählen.

 

Ich lag in meinem Krankenbett, grübelte nach, über das, was Waltraud mir so über die Vergangenheit erzählt hatte. Ich versuchte mich einfach auch an den Unfallhergang zu erinnern. Langsam erinnerte ich mich, wo ich zuletzt gearbeitet hatte, dass ich auf der 1. Sohle, (das war in 500 Meter Tiefe) damit beschäftigt war, mit einem Haspel Bergewagen in Richtung Schacht zu ziehen. Das heißt, ich habe einen Zug voller Steine, der mit einer kleinen Lokomotive in die Nähe des Schachtes gebracht wurde, mit einem Haspel weiter in Richtung Schacht gezogen. (Ein Haspel ist ein Zug-Gerät, das mit Druckluft ein Seil aufrollt und dabei Lasten zieht.) Es ist einem Bergfremden gar nicht so einfach zu erklären, weil der Bergbau seine eigene Sprache hat. Es war auf jeden Fall so, dass am Schacht der Anschläger die angekuppelten Bergewagen mit einer hydraulischen Vorrichtung weiter zur Kippstelle zog. Ich muss vorher noch erklären, dass auf dem Bergwerk Rossenray die Berge, das heißt die Steine, die beim Erstellen der Strecken anfielen, am Schacht in einen großen Kübel gekippt und dann zu Tage gefördert wurden. Nun hatte sich bei meiner Arbeit mit dem Haspel das Seil verklemmt, (so weit war meine Erinnerung wieder gekommen) und ich befestigte es mit dem Haken, der sich am Seil befand, an dem Zug, der vom Anschläger mit der hydraulischen Vorrichtung am Schacht weiter vorgezogen wurde. So hatte ich die Hoffnung, dass das verklemmte Seil auf dem Haspel wieder freigezogen wurde. Leider erfüllte sich meine Hoffnung nicht und ich versuchte mit einer ausrangierten Bohrstange das immer mehr unter Spannung stehende Seil am Haken frei zu hebeln.

 

Es muss wohl so gewesen sein, dass mir die auf einmal herumschlagende Bohrstange mit einiger Wucht einen Schlag auf die Halsschlagader versetzt hat. Dann ging bei mir das Licht aus. Ich fiel wahrscheinlich mit dem Gesicht auf den Schotter, der die Sohle bedeckte und zog mir dadurch wohl die Verletzungen im Gesicht zu. Je mehr ich mich mit den letzten Sekunden vor dem „Stromausfall‘‘ in meinem Kopf befasste, um so mehr kam die Erinnerung zurück. 

 

Mittlerweile war die erste Nacht im Krankenhaus mehr oder weniger gut vergangen. Ich wurde von den Schwestern vernünftig gewaschen und war eigentlich guter Dinge. Dann kam die Visite. Die Ärzte waren relativ erstaunt, als ich ihnen meine Erkenntnisse aus meinem Grübeln und Nachdenken mitteilte. Vor allem waren sie aber zufrieden, dass wohl offenbar mein Gedächtnis langsam wiederkam. Recht früh kam meine Waltraud zu Besuch. Auch sie war froh über meinen Gesundheitszustand. Sie brachte mir ein paar Sachen zum Anziehen und etwas Taschengeld mit. Jetzt hatte sie ein anderes Problem, denn am nächsten Tag war Heiligabend. Wir hatten ihren Eltern schon länger versprochen, sie Weihnachten zu besuchen. Der behandelnde Arzt sagte aber auf die entsprechende Frage: „Sofortige Entlassung aus dem Krankenhaus? Auf gar keinen Fall!“

Meine Waltraud fuhr also mit dem Bus wieder nach Hause. Da wir ja noch kein Telefon hatten, schickte sie ein Telegramm an ihre Eltern. „Können Weihnachten nicht kommen, Albrecht hatte einen Arbeitsunfall und liegt im Krankenhaus.“

 

Ich hatte mich mit der Weigerung des Arztes, mich sofort zu entlassen, noch lange nicht abgefunden. Ich weiß nicht mehr wie lange ich mit dem behandelnden Arzt diskutiert und verhandelt habe. Auf jeden Fall habe ich es nach Stunden geschafft, doch noch entlassen zu werden. Ich musste ihm versprechen, mich nach Weihnachten sofort wieder bei ihm vorzustellen. So schnell wie möglich bin ich, nur in Hemd und Hose und in Pantoffeln, mit dem Bus nach Hause gefahren.

 

Am ersten Weihnachtstag schellte es an unserer Tür. Ich öffnete und vor mir standen meine Schwiegereltern. Mein Schwiegervater sah mich ungläubig an. Er wurde sofort giftig, weil es mir ganz gut ging, denn er hatte sich unendliche Sorgen gemacht. „Und Du stehst hier einfach rum, als wenn nichts gewesen wär!“ 

Wir hatten ganz vergessen, sie zu informieren. Es hat sich dann alles wieder eingerenkt, und wir hatten doch noch ein schönes Weihnachtsfest.

 

Sofort nach Weihnachten ging ich zur Zeche und befragte alle Kollegen, die mich gefunden, zu Tage gebracht und zum Heildiener begleitet hatten. Dabei erfuhr ich einige ulkige Dinge. Die Kollegen hatten mich an der Unfallstelle gefunden als sie zum Schacht gingen. Nach ihrer Darstellung hätten sie mich hochgehoben, praktisch auf die Beine gestellt und mich zum Schacht geführt. Ich bin also tatsächlich auf eigenen Beinen gelaufen, am Schacht mit Hilfe in den Kübel gestiegen und über Tage auch ausgestiegen. Als sie dann merkten, dass ich wohl etwas durcheinander war, brachten sie mich zum Heildiener. Den Rest kennen Sie. Wenn ich dann später mal im kleinen Kreis die Geschichte erzählte, habe ich natürlich als Gag den Spruch gebracht: „Hätte ich mal besser mein Gedächtnis verloren behalten.“