Vom Kohlenpott zum Niederrhein oder „Warum ich Kamp-Lintforter wurde“

 

„Jetzt sagte ich natürlich mit Stolz: Ich habe Bergmann gelernt.“

 

Bei dieser Geschichte muss ich weit zurückgehen. Ich fange mal bei meiner Geburt an. Am 17. September 1931 bin ich in Gladbeck in Westfalen als Ältester von sieben Kindern geboren. Es gab noch einen älteren Halbbruder, der wuchs aber bei den Großeltern mütterlicherseits auf. Mein Vater war Bergmann, meine Mutter Hausfrau. Wir wohnten also in Gladbeck in einer Zechenwohnung von ca. 50 – 60 qm mit neun Personen. Die Toilette war ein Plumpsklo im Stall auf dem Hof. In dieser Zechenwohnung mit drei Zimmern wohnten wir zur Miete wie tausende Bergmannsfamilien im Ruhrgebiet auch und waren zufrieden. Wir kannten es ja nicht anders. Meine nach mir geborenen Geschwister waren meine Schwester Ingrid, geb. 1933, meine Schwester Ellen, geb. 1935, mein Bruder Richard, geb. 1937, mein Bruder Manfred, geb. 1938, meine Schwester Lotte, geb. 1940 und mein Bruder Karl, geb. 1941.

 

Am 15. Februar 1947 begann ich ja, wie schon an anderer Stelle geschildert, meine Lehre als Berglehrling auf der Zeche Matthias Stinnes 3/4 in Gladbeck. Da mein Vater in dieser Zeit wegen einer schweren chronischen Krankheit sechs Jahre lang nicht arbeiten konnte, auch kein Krankengeld mehr bekam, weil er „ausgesteuert” war (das war damals so), war meine Vergütung als Berglehrling mit dem Geld von der Wohlfahrt (so nannte man damals das Sozialamt) zusammen das einzige Einkommen für unsere neunköpfige Familie. Da in dieser Zeit, und auch noch viele Jahre lang, drei mal im Monat der Lohn in bar auf der Zeche ausgezahlt wurde, bekam ich jedes mal 10,00 Mark Taschengeld. So weit, so gut.

 

Am Rosenmontag im Jahr 1950 lernte ich dann meine Waltraud kennen, die zu der Zeit als Kinderpflegerin im Kindergarten der Werksfürsorge Zeche Graf-Moltke beschäftigt war. Waltraud ist auch in Gladbeck geboren, hatte noch zwei Geschwister. Sie war die Älteste. Nach ihr kamen eine Schwester und ein Bruder. Ihr Vater war Schlosser auf der Zeche Graf Moltke und sie wohnte auch mit ihren Eltern und Geschwistern in einer Zechenwohnung. 

Als ich dann zum ersten Mal den Eltern und Geschwistern vorgestellt wurde, war plötzlich mein Leben so ganz anders. Ich durfte jetzt meine Waltraud jeden Sonntag besuchen, mit ihr auch ausgehen: ins Kino oder zum Tanzen. „Aber um 22 Uhr bist Du zu Hause.“ Das war der ständige Ausspruch ihrer Mutter. Das war damals einfach so und wir waren mehr oder weniger damit zufrieden. Irgendwann haben wir dann doch mehr und mehr unternommen. Unsere Ausflüge und Besuche bei allen möglichen Veranstaltungen wurden immer mehr und das war natürlich nicht billig. So bemühte ich mich nach einer gewissen Zeit um eine Arbeitsstelle, wo ich mehr Geld verdienen konnte.

Zufällig war ein Nachbar der Eltern meiner Waltraud als Kolonnenführer bei einer Bergbauspezialfirma beschäftigt. Nun war bei uns in den Bergmannskreisen allgemein bekannt, dass bei diesen Spezialfirmen, die auf den gesamten Zechen des Ruhrgebiets die Gesteinsarbeiten machten, der höchste Lohn gezahlt wurde. Bei diesen Tätigkeiten handelte es sich um alle Arbeiten, die sich im Gebirge, also im Gestein abspielten, d. h.: Von diesen Firmen wurden also Schächte, Richtstrecken, Querschläge usw. hergestellt. Dafür brauchte man natürlich Spezialmaschinen und Geräte und Leute, die mit diesen Maschinen umgehen konnten. Allerdings gehörten diese Arbeiten auch mit zu den härtesten Tätigkeiten, die auf den Schachtanlagen ausgeführt wurden. Es war auch nicht so einfach, in so eine Kolonne hinein zu kommen, aber der Nachbar sagte mir: „Ich versuche es mit Dir, aber wenn Du die Arbeit nicht schaffst, jag ich Dich zum Teufel!“ So rau war dort der Ton. Ich habe es versucht. Ich habe mich gequält und ich habe durchgehalten. Es waren natürlich auch noch andere Tätigkeiten auf der Zeche, die man als besonders schwer bezeichnen konnte, z. B. die Arbeit der Kohlenhauer, die im Streb unter härtesten Bedingungen mit Knochenarbeit die Kohle förderten. Interessant war auch wie sich Gesteinshauer und Kohlenhauer rein äußerlich unterschieden.

 

Die Kohlenhauer waren immer kohlrabenschwarz im Gesicht, natürlich auch am ganzen Körper. Der Arbeitsanzug war genauso voller Kohlenstaub und sie trugen Arbeitsschuhe aus Leder mit Stahlkappen.

Die Gesteinshauer hatten zwar die gleichen Arbeitsanzüge wie die Kohlenhauer, beziehungsweise wie alle Bergleute, aber sie waren immer hell, waren immer mit weißen Spritzern bedeckt genauso wie Helme und Gesichter. Sie trugen immer Gummistiefel, auch mit Stahlkappen. Die Spritzer kamen vom Bohren der Sprenglöcher mit Wasserspülung. Die Gummistiefel wurden ausnahmslos getragen, weil man vor Ort, also dort, wo es nicht mehr weiterging, wo man also die gesamte Schicht beschäftigt war, sich immer im Wasser bewegte.

Jede Gruppe war stolz, dass sie entweder zu den Kohlenhauern oder zu den Gesteinshauern gehörte. So habe ich das immer empfunden.

Natürlich gab es nicht nur diese beiden Sparten unter Tage. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle von den ganzen anderen Spezialisten zu erzählen, die auf so einer Schachtanlage tätig waren.

 

Nun zurück zur eigentlichen Geschichte wie ich vom Kohlenpott zum Niederrhein kam. Mittlerweile war ich im November 1953 mit der gesamten Kolonne zur Firma Walter, einer größeren Gesteinsbaufirma auf der Zeche Prosper II, in Bottrop gewechselt. Bei dieser Firma machte ich dann meine Hauerprüfung und kriegte als Hauer endlich den vollen Lohn ohne Abzug. Man bekam nämlich als Lehrhauer ohne Prüfung Lohnabzug und zwar im ersten Jahr 10%, im zweiten Jahr 7,5% und im dritten Jahr bis in alle Ewigkeit oder bis man Hauer war 5%. Jetzt war ich stolz, dass ich Gesteinshauer mit vollem Lohn war. Bei dieser Firma auf der Zeche Prosper II machte ich dann auch im Jahr 1957 meine Ausbildung als Sprengbeauftragter und war somit jetzt Schießmeister.

 

Zurück zu meiner Waltraud, zum Privatleben. Irgendwann sprachen wir natürlich von Heirat und merkten recht bald, da waren ziemlich viele Probleme, über die man sich heute, gelinde gesagt, nur amüsiert, aber wir waren im letzten Drittel des Jahres 1954. Das erste Problem war, eine Wohnung zu bekommen. Eine Wohnung bekam man allerdings nur, wenn man verheiratet war. Die Firma, bei der ich beschäftigt war, hatte keine freie Wohnung und eine unendlich lange Warteliste. Bei der Stadt Gladbeck war auch keine Wohnung mehr frei. Im Februar 1955 kam, völlig überraschend, mein zukünftiger Schwiegervater mit einem Ausspruch, den ich nie mehr vergessen habe. Er sagte ohne Vorwarnung: „Ihr könnt heiraten, ich hab eine Wohnung für Euch.” Fakt war, er hatte über gute Bekannte erfahren, dass eine Wohnung in einer Zechensiedlung zur Untermiete zu haben war, aber eine sofortige Zusage war erforderlich. Als wir beide uns dann sachkundig machten, erfuhren wir Folgendes: In einer Zechensiedlung wohnte in einer Vierzimmerwohnung ein Kopfschlächter mit seiner Frau, der zwei Zimmer untervermieten wollte. „Kopfschlächter“ bedeutete, er war auf dem Schlachthof nur mit dem Töten der Tiere beschäftigt. Wir sahen uns die Wohnung an und waren eigentlich nicht besonders begeistert. Die Wohnung hatte insgesamt vier Zimmer und zwar zwei Zimmer im Erdgeschoß und zwei Zimmer in der ersten Etage. Wir sollten ein Zimmer unten und ein Zimmer oben bekommen und mussten zur gemeinsamen Toilette durch die Wohnküche des Hauptmieters gehen. Trotz sehr großer Bedenken entschlossen wir uns, die Wohnung zu nehmen. Jetzt ging das Drama los. Ab zum Standesamt, das Aufgebot bestellen, die Zimmer renovieren, die dafür nötigen Materialien besorgen, Möbel aussuchen, Möbel kaufen.

 

Am 11. März 1955 wurde standesamtlich geheiratet. Als wir dann nach der Hochzeit in unsere klitzekleine Wohnung zogen, ahnten wir nicht, worauf wir uns eingelassen hatten. Punkt eins, unser Vermieter war Alkoholiker und eigentlich immer besoffen. Punkt zwei, er brachte immer Innereien vom Schlachthof mit, also Schlachtabfälle, um diese als Hundefutter an Hundebesitzer zu verkaufen. Den Abfall lagerte er im Keller und die Folge war ein bestialischer Gestank vom Keller bis zum Dachboden. Warum sind wir nicht ausgezogen? Keine Ahnung.

Im Jahr 1954 hatte ich mir ein schönes Motorrad, eine NSU - Max, gekauft und so waren wir in unserer Freizeit immer mit dem Motorrad unterwegs. Da ich ja schon immer ein kleiner Spinner war, habe ich für mich und Waltraud dann auch noch Motorrad - Lederklamotten nach Maß machen lassen. Das war schon was. Wenn wir mit dem Motorrad durch unsere Bergmannssiedlung fuhren, gab es immer gehässige Bemerkungen von den Nachbarn: „Motorrad fahren kann er ja, aber zum Kinder machen ist er wohl zu blöd.“ Mittlerweile waren wir nämlich im fünften Jahr verheiratet. 

 


Endlich war dann unser erstes Kind unterwegs. Da jetzt Schluss war mit Motorrad fahren, kaufte ich mir kurz entschlossen ein kleines Auto, ein 250er Goggomobil. Diesen Kleinwagen konnte ich nämlich sofort mit meinen Führerschein Klasse 4 fahren.

 

Am 11. März 1960, also genau an unserem 5. Hochzeitstag, kam unser Sohn Manuel zur Welt. Da sagten wir beide: „Jetzt muss etwas geschehen. Jetzt muss mit Gewalt eine richtige Wohnung her.“ Über drei Ecken erfuhr ich, da gibt es eine Stadt am linken Niederrhein, die heißt Kamp - Lintfort und dort wird auf der grünen Wiese eine ganz neue Zeche erbaut, und was noch viel wichtiger war, es wurden auch gleich neue Wohnungen für die Belegschaft erstellt. 

 

Anfang Mai 1960, unser Sohn Manuel war gerade etwas über zwei Monate alt, setzte ich mich in unser Goggomobil und fuhr zur gelobten Stadt Kamp - Lintfort. Zuerst fuhr ich zu der Baustelle, wo die Wohnungen gerade gebaut wurden und siehe da, man verputzte und tapezierte schon die ersten Zimmer. In Gedanken, bei Besichtigung der Rohbauten, sah ich uns schon in so einer Neubauwohnung mit Bad, Balkon und eigener Wohnungstür einziehen. Anschließend fuhr ich natürlich sofort zur Schachtanlage Rossenray, die dort nur etwa einen Kilometer von der Stadt und den neuen Wohnungen entstand. Bisher war ich ja in den vergangen etwa 13 Jahren immer auf Zechen beschäftigt, die alle schon viele Jahrzehnte, teilweise schon 100 Jahre auf dem Buckel hatten. Nun sah ich dort einige wenige Gebäude aus Stein, der Rest waren behelfsmäßige Holzbaracken. Die zwei Fördertürme waren aus riesigen Holzstämmen erbaut und alles wirkte für mich wie in einem Film aus dem wilden Westen zur Goldgräberzeit. In einem der Gebäude fand ich den Personalchef, der für die Einstellung neuer Leute zuständig war. Ich muss das etwas ausführlicher erzählen, weil alles, was ich jetzt erlebte schon etwas Einmaliges war.

Ich betrat also das Büro des Chefs mit einem fröhlichen „Glückauf” wie ich es gewohnt war und bekam sofort freundlich einen Platz angeboten. Genau so freundlich wurde ich nach meinen Wünschen gefragt. Ich erwähne das extra, weil ich das eigentlich so gar nicht kannte. Als ich dem Herrn erklärte, dass ich Arbeit suche, aber ungekündigt auf der Zeche Prosper II beschäftigt war, wollte er natürlich die Gründe wissen, warum ich neue Arbeit suche.

Als ich ihm meine Wohnungssituation schilderte und dann gleich die Frage stellte: „Kann ich denn bei Ihnen Arbeit und recht bald auch eine Wohnung bekommen?“, sagte er nur: „Also pass mal auf mein Junge. Erstens: Was bist Du von Beruf? Zweitens: Was kannst Du?“ Jetzt sagte ich natürlich mit Stolz: „Ich habe Bergmann gelernt, hab die Knappenprüfung, die Hauerprüfung, bin Schießmeister und habe in den letzten acht Jahren bei den Bergbauspezialfirmen sämtliche Ladegeräte, die es gibt, ob auf Schienen, Raupen oder Rädern, bedient.“ Und jetzt kam vom Personalchef ein Ausspruch, den ich bis heute nicht vergessen habe: „Mensch, so einen Kerl haben wir hier ja noch gar nicht: Bis jetzt haben wir eigentlich noch gar keine gelernten Bergleute. Wir haben Landwirte, Friseure, Maurer, Handwerker aus allen möglichen Bereichen. Du kannst sofort anfangen, und wenn Du einen Monat fleißig und pünktlich bist, bekommst Du auch eine Wohnung. Im übrigen bist Du der 21. Mann hier auf der Schachtanlage und bekommst auch hiermit die Markennummer 21.“

 

Auf Rossenray waren noch eine ganze Menge anderer Leute beschäftigt. Die waren allerdings alle bei Bergbauspezialfirmen. Diese Leute hatten natürlich die Zeche Rossenray bis zum vorhandenen Stand ausgebaut. Sie blieben weiterhin dort beschäftigt und machten dort auch weiter einen Teil der Gesteinsarbeiten. Aber was natürlich für mich wichtig war: Wir, die Zechenleute, die jetzt alle nach und nach angelegt wurden, machten nun auch Streckenvortrieb, also Gesteinsarbeiten, denn in den nächsten Jahren war an Kohlenförderung noch nicht zu denken. 

 

 

Am 1. Juni 1960 verfuhr ich meine erste Schicht auf Rossenray als Belegschaftsmitglied der Zeche. Hiermit war meine achtjährige Wanderung bei den Spezialfirmen beendet. Am 1. Juli konnten wir in eine, für unsere Begriffe, tolle Neubauwohnung einziehen. Wir konnten es eigentlich lange gar nicht fassen, wie schön so etwas sein kann - die Wohnungstür hinter uns zu zuziehen, in eine eigene Badewanne zu steigen, übrigens zum ersten Mal in unserm Leben auf einem eigenen Balkon im Liegestuhl zu liegen. Außerdem wohnten wir jetzt in einer Stadt, die wir überhaupt nicht kannten und jeder Spaziergang, jeder Bummel in der Umgebung war lange Zeit wie im Urlaub.